Der Roman II
Ralf verarbeitet in seinem Roman viele historische Fakten. So wird die
Geschichte der Tempelritter und der Katharer ebenso ausführlich behandelt, wie
zahlreiche Textstellen der Bibel angeführt werden, um dem aufgewühlten Leser
die erschütternden Erkenntnisse zu belegen. Es kann nicht schaden, die Bibel
neben sich liegen zu haben. Oftmals habe ich bei der ersten Lektüre von Ralfs
Texten zu ihm gesagt: "Wie, das steht wirklich in der Bibel?" Seine
Antwort war dann nur: "Oh ja, sieh doch selber nach!" Diesen Rat kann
ich nur an alle Leser weitergeben. Sie werden sich wundern!
Bei weitergehendem Interesse an dem Thema ist die nächste Buchanschaffung
dann sicherlich eine Ausgabe der apokryphen Schriften - der verborgenen
Evangelien.
"Apokryphen", ergänzte er gnädig. "Die Sache ist eigentlich
schnell erklärt. Bei diesen sogenannten verborgenen Schriften handelt es sich
um all die Evangelien, die die Kirche nicht im Neuen Testament haben
wollte." [...] "Das gilt im übrigen auch für das Alte Testament.
Unsere alten Kirchenfürsten haben damals alles, was ihnen nicht in den Kram
passte - ob Schriften, Psalmen, Evangelien - sie haben das alles aus dem Alten
und Neuen Testament ... einfach rausgeschmissen. Und das schon im 4. Jahrhundert
unter Kaiser Konstantin."
Die Thematik der apokryphen Schriften zieht sich als ein Handlungsstrang
durch den ganzen Roman. So kommt es wesentlich später z. B. zu folgender Szene:
Severin war zum Fenster hinüber gegangen und sah hinaus. "Sie haben
sich also auch schon ... mit diesen apokryphen Gedanken infiziert?" sagte
er leise ohne seinen Blick von der Blume auf dem Fensterbrett zu nehmen.
"Hat man erst einmal davon gekostet ...", murmelte er, "... gibt
es keine Rettung mehr! Man kann nicht mehr schlafen ... und zermartert sich den
Kopf darüber, ob es stimmt, oder nicht. Es ist alles so ungeheuerlich ... und
der Zweifel wächst von Tag zu Tag. Der Zweifel ... an unserem Herrn ..."
Er sah auf seine zitterigen Hände. "Und am Ende verzerrt einen die elende
Gier nach der Wahrheit! Es bleibt nur das Nichts ... die Finsternis ... und der
Tod!"
Es herrschte völlige Stille. Niemand der Anwesenden wagte zu atmen.
"Na lesen Sie schon! Sie sind doch genauso gierig darauf, wie ich es
war!" Ungeduldig gab Severin Pierre ein Zeichen laut vorzutragen, was auf
diesen Zettel gekritzelt war.
"Also ... ‚Ein Mann trat vor Jesus hin, und dieser Mann sah Jesus im
Aussehen des Apostels Judas Thomas. Als Jesus nun bemerkte, daß ihn der Mann
mit seinem Bruder zu verwechseln schien, sagte er: Ich bin nicht Judas mit dem
Zunamen Thomas, ich bin sein Bruder.'"
Und schon zeigt sich im letzten Satz dieser Leseprobe ein weiterer
Handlungsstrang. Immer wieder taucht die Frage auf, ob Jesus womöglich einen
Zwillingsbruder hatte. Nicht nur verschiedene Textstellen scheinen dies zu
belegen. Abbé Saunière hatte bei der Renovierung der Kirche vehement darauf
bestanden, daß sowohl die Statue der Maria, als auch die des Josef mit je einem
Jesuskind gezeigt wurden. Warum? Auch gibt es eine Zeit in der Malerei - im
15./16. Jahrhundert -, in der viele bedeutende Künstler auf ihren Darstellungen
- insbesondere des Abendmahls - einem Jünger eine sehr auffällige Ähnlichkeit
mit Jesus gaben. Warum?
So entdeckt Pierre in der Bibliothek seines Vorgängers im Tour Magdala eine
riesige Gemäldesammlung.
Stille! Sein Herz pochte und kleine Schweißperlen sammelten sich auf seiner
Stirn. Sein Atem stockte. Das gibt's doch gar nicht! Er rieb sich die Augen und
sah erneut auf die Zeichen. Entweder bin ich verrückt, oder ... er traute sich
kaum weiterzudenken ... oder die Personen unter diesen Zeichen sind identisch. [...]
Unentschlossen verharrte er noch einen Augenblick und dachte nach. Vieles, was
er hier gesehen hatte, waren - so weit er es beurteilen konnte - Kopien, die
jemand für den Alten angefertigt hatte. Die Originale [...] waren überall in
der Welt
verstreut. War es denn
möglich, dass der alte Saunière so verrückt
gewesen war [...], daß er die Maler, die die Kopien angefertigt hatten, dafür
bezahlte, daß sie Jesus einen Zwilligsbruder zur Seite stellten? [...] Sollte
das alles hier nur das Produkt eines kranken Gehirns sein, das seine
verschrobenen Ideen zu einer neuen Wahrheit erheben wollte? Eine großangelegte
Täuschung ...
Er dachte nach.
Aber was wäre ... wenn nicht?
Auch Legenden ferner Kulturen und Völker werden angeführt, um die Theorien
über den Satan, den gefallenen Engel Luzifer, und seinen Sturz aus den sieben
Himmeln auf die Erde zu untermauern.
"Ja aber ...", Marie griff sich an den Kopf. "Welche
Geschichte stimmt denn nun? Im Grunde widersprechen sie sich doch." Sie
deutete auf den Sarg. "Die Templer sagen, daß die Kreuzigung ein Betrug
war und nie so stattgefunden hat, wie es in der Bibel steht." Sie
überlegte. "Die vielen Stellen in der Bibel, und die Hinweise in den
Legenden anderer Kulturen weisen hingegen darauf hin, daß wir tatsächlich mit
dem leibhaftigen Satan auf der Erde leben müssen. Das hieße aber doch dann ...
daß die Kreuzigung kein Betrug war ... weil sie eben Teil des Plans des
Allmächtigen war ... oder?"
"Stimmt auch!" murmelte er, während er mit dem Schwert die knochigen
Überreste umgrub.
"Ja ... aber ...", sie hob verwirrt die Hände, "welche
Geschichte erzählt uns denn nun die Wahrheit?"
"Hm?" Er hörte einen Moment auf zu stochern. "Ich weiß es
nicht!" Aber in beiden Fällen hätte uns die Kirche seit Jahrhunderten
vorsätzlich und gezielt belogen."
"Und was glaubst du?" Marie sah ihn ratlos an.
[...] "Ich bin mir nicht sicher ... aber wenn ich Severins Rat folge und
mir die Frage stelle, wie Gott das ganze Elend auf der Erde zulassen kann, wo
wir doch seine Kinder sind ... dann gibt es für mich nur eine Antwort." Er
sah zu ihr hoch.
"Du glaubst ihm doch nicht!" schimpfte sie. "Wir ... mit dem
Teufel auf der Erde!"
"Doch!" Er nickte, als plötzlich ...
Legenden, Hinweise, Textstellen aus der Bibel und den apokryphen Schriften
... je mehr Pierre und Marie entdecken, desto mehr neue Fragen tauchen auf.
Tiefer und tiefer dringen sie in die Geheimnisse ein.
Der Roman III